Wie unsere Umgebung uns formt

Der beste Weg eine neue Sprache zu lernen, ist nicht in einem Klassenzimmer zu sitzen und stumpf Vokabeln auswendig zu lernen und aufzusagen.

Der beste Weg ist, sich in das Land zu begeben, die Menschen zu beobachten, nur noch diese neue Sprache zu sprechen und der Plastizität unseres Gehirns einfach ihr Ding machen zu lassen.

Genauso ist es mit Training.

Wir Menschen sind Adaptoide. Wir sind geradezu unheimlich anpassungsfähig. Unsere Körper sind so konzipiert, dass sie sich an unsere Umgebung anpassen. Und das ist der Schlüssel zur Erschließung perfekter Leistung.

Lifestyle vs Training

Viele von uns trainieren und fühlen sich gut danach. Das ist auch gut und richtig.

Verändern wir aber jetzt einmal den Blickwinkel.

Wir trainieren 1 Stunde pro Tag und fühlen uns super. Wir haben etwas getan.

Was machen wir die restlichen 23 Stunden?

8 Stunden schlafen wir

8 Stunden arbeiten wir (meist sitzend)

7 Stunden sind wir etwas aktiv, sitzen aber auch viel

Viele von uns haben trotz regelmäßigen Trainings verkürzte Hüftbeuger, runde Schultern und Bierbäuche.

Das ist per se erst einmal nichts verkehrtes. Ich sagte es schon, es kommt auf den Blickwinkel an. Unser Körper hat sich an unseren Lifestyle angepasst.

Wir sind halt Adaptoide. Alles passiert aufgrund unserer Anpassungsfähigkeit an unsere Umgebung.

Genauso ist es kein Wunder, wenn wir mit einem Landwirt sprechen, der uns die Hand gibt und einen Griff wie ein Schraubstock hat. Die Muskulatur wird nicht gezielt trainiert. Sie wird lediglich über einen Großteil des Tages immer wieder (teils intensiv) genutzt .

Wie unsere Umgebung uns formt

Hohes Volumen

Hohes Volumen führt immer zu einem besseren Ergebnis, solange die Regenerationenergie der verbrauchten Energie entspricht und die Überlastung des Systems (die Muskeln, Sehnen, Bänder, Herzkreislaufsystem etc.) vorsichtig und progressiv ist.

Das Problem? Viele Wiederholungen mäßig herausfordernder Bewegungen brauchen Zeit und passen nicht ordentlich in ein bestimmtes Trainingsprogramm. Sie funktionieren am besten, wenn sie über den Tag verteilt werden.

Das Gleiche gilt für leichte Cardio Einheiten über den Tag verteilt.

Pavel Tsatsouline sagte einmal, daß Stärke ein Skill ist. Es ist erlernbar. Weniger trainierbar.

Anstatt sich auf Muskelschäden und Stoffwechselstress zu konzentrieren, sollten wir uns lieber auf Wiederholung konzentrieren.

So ist es z.B. auch erklärbar, wie einige indigene Völker wie die Tarahumara jeden Tag schier übermenschliche Strecken zu Fuß absolvieren, die mararthon-ähnliche Entfernungen entsprechen.

Verteilte Wiederholung

So zu trainieren hat noch einen weiteren Vorteil.

Es gibt die sogenannte „Verteilte Wiederholung„. Es ist ein Lernsystem, das zunehmende Zeitabstände zwischen den Wiederholungen des Erlernten vorsieht.

Untersuchungen zeigen uns, dass man, wenn man jede Form des Lernens über den Tag verteilt, tatsächlich schnelleres Lernen und eine bessere Festigung des Erlernten sieht.

Das macht Sinn, wenn man bedenkt, daß man jede neue Lerneinheit „kalt“ beginnt, was der Realität im Leben entspricht.

Und nicht nur das. Auf jede Lernsitzung folgt eine Abklingzeit, in der wir eine stärkere Aktivierung in den relevanten neuronalen Pfaden erleben. Je öfter das vorkommt, desto mehr Gesamtaktivierung unseres Systems.

In Bezug auf Training heißt einen Anstieg der Proteinsynthese, der Wachstumshormone, Testosteron etc. Auch wird der Stoffwechsel deutlich gesteigert.

Mehr bedeutet aber nicht, wie heute man es gerne macht, es zu übertreiben und nur noch zu powern. Nach einer intensiven Einheit, braucht man Ruhe, damit man die nächste Einheit frisch starten kann.

Der Interferenzeffekt

Was machen wir während dieser Ruhephasen? Wir lernen weiter. Nur anders.

Wir nutzen andere Wege, andere Methoden, andere Intensitäten, um weiter zu machen.

Platt gesagt: wir machen einfach etwas anderes.

Das führt uns zum Interferenzeffekt.

Es hat sich gezeigt, wenn man verschiedene Übungen, die augenscheinlich nichts miteinander zu tun haben, trainiert, es zwar erst einmal zu einem Leistungseinbruch während des Trainings führen kann, es aber hinterher zu einer weit verbesserten Performance kommen wird.

Mit anderen Worten, wenn wir Basketball lernen wollen, sollten wir nicht nur Würfe üben. Stattdessen sollten wie Dinge vermischen, um vom Prinzip der verteilten Wiederholung UND einer realistischeren Art von Training zu profitieren.

Im wirklichen Leben sind wir selten verpflichtet, einen einzigen Satz immer wieder zu wiederholen, ohne zu variieren.

Ebenso sollten wir vermeiden, Bewegungen genau und ganz zu wiederholen.

Perfektion?

Um den perfekten Deadlifting zu lernen, müssen wir den perfekten Deadlift immer wieder üben.

Wir müssen sicherstellen, dass die Bewegung jedes Mal so identisch wie möglich ist.

Dies ist nützlich für den Wettbewerb, aber nicht für das Leben.

Es gibt keine geraden Balken im wirklichen Leben. Es gibt nur wenige flache Oberflächen. Selten haben wir den Luxus der „perfekten Form“. Wenn wir ringen, klettern oder Möbel bewegen, müssen wir aus unangenehmen Winkeln mit unterschiedlichem Schwung heben.

Und genau durch die ständige Variation der Bewegungen werden wir „bereit für alles“ und entwickeln die sogenannte Real World Strength.

Auf diese Weise entwickeln wir das, was Nicolai Bernstein als „robuste neuronale Karten“ bezeichnet. Bewegungsmuster entstehen aus Einschränkungen: Organismus, Umwelt und Ziel.

Dies ist die dynamische Systemtheorie, die wir auf das motorische Lernen angewenden.

Bewegung ist Medizin

Disbalancen und Überbeanspruchungsverletzungen sind so oft nicht das Ergebnis der zu häufigen Verwendung von Muskeln, sondern das Ergebnis der Verwendung bestimmter Bewegungsmuster unter Ausschluss aller anderen. 

Bewegung ist Medizin. Aber nur, wenn es ausreichend vielfältig und ausgewogen ist.

Kontinuierliche Bewegung kann sogar dazu beitragen, die Genesung zu fördern. Wenn wir aufhören, ein Gelenk zu bewegen, um es zu schützen, geben wir dem Körper keinen Anreiz, den betroffenen Bereich zu heilen. Wir entwickeln kompensatorische Bewegungsmuster, die die Verletzung verschlimmern. Und wir verhindern aktiv den Blutfluss, das Wachstumshormon und die Proteinsynthese im betroffenen Bereich.

Das beschleunigt sogar das Altern an sich. Aus einem Problem wird dann eine Vielzahl an Problemen, die sich immer schwieriger entwirren lassen und mitunter mehr Zeit kostet, als unser Leben lang ist.

Der Körper ist viel zu komplex für uns, um ein Trainingsprogramm zu schreiben, das jeden einzelnen Muskel und jedes einzelne Bewegungsmuster stärkt. Die einzige Lösung besteht darin, uns den Arten von Umgebungen zu unterwerfen, die uns herausfordern und die genauso komplex und chaotisch sind wie wir. Dann lassen wir unseren Körper sein Ding tun.

Dasselbe gilt übrigens für unsere kognitive Entwicklung und unsere Ernährung. Es gibt eine Million Nahrungsergänzungsmittel, die behaupten, Sie super gesund zu machen. Eine Million Zutaten, die uns schaden. Und niemand kann sich darauf einigen, welche welche sind.

Nur wenn wir eine sehr abwechslungsreiche, natürliche und unverarbeitete Ernährung einnehmen, können wir sicher sein, dass wir das bekommen, was wir brauchen, damit unser Körper es nutzen kann.

Wir müssen zum Gesamtbild zurückkehren.

Umgebungsveränderung

Was wir uns hier letztendlich ansehen ist ein leichtes, abwechslungsreiches, nicht steuerungsfähiges Training, das durch seine Variationsfähigkeit den gesamten Tag über anhält. Und natürlich hilft uns dies auch, körperlich stärker zu werden, indem wir die unterstützenden Muskeln entwickeln, die so oft übersehen werden.

Organismen, die überleben und gedeihen, sind solche, die sich an ihre Umgebung anpassen können. Dies geschieht in großem Maßstab über Millionen von Jahren (Entwicklung), aber auch innerhalb eines einzigen Lebens.

Das Problem ist, dass Menschen mehr als jede andere Spezies, die wir kennen, die unheimliche Fähigkeit haben, ihre Umgebung zu gestalten.

Und was machen wir mit dieser Fähigkeit ? Alles so komfortabel und sicher wie möglich machen. Alles ist weich, warm und einfach. Das Ausmaß ist leicht zu übersehen, weil wir es so gewohnt sind. Aber auch unsere Schränke und Regale auf Sichthöhe existieren nur, um uns die Dinge zu erleichtern: in dem Maße, in dem wir uns nie beugen oder hochreichen müssen.

Stellen wir uns vor, Sie müssten jedes Mal schwere Türen schieben, wenn wir in einen anderen Raum gehen wollen. Stellen wir uns eine Kletterwand anstelle von Treppen vor. Stellen wir uns vor, wir müssten an einer Klimmzugstange hängen, während wir Gegenstände aus Küchenschränken holen, die zu hoch waren, um sie sonst zu erreichen. Stellen wir uns vor, wir müssten einen steifen Griff ankurbeln, um Wasser aus einem Wasserhahn zu erhalten.

All diese Änderungen könnten sicherstellen, dass wir den ganzen Tag über in Bewegung bleiben und stark, mobil und wachsam bleiben.

Ich weiß, dass es ein doofes Konzept ist. Aber ich würde mich freuen, wenn diese Idee in der Art und Weise Gestalt annehmen würde, wie wir unsere Häuser gestalten und wie wir Wohnräume betrachten, insbesondere für die weniger mobilen.

Und um es klar zu sage: es geht hier nicht um das Konzept „zurück in die Steinzeit“. Es geht vielmehr um ein Konzept, wie wir unsere Umgebung gestalten können, um gesund und kräftig zu bleiben. Physisch und psychisch.

Unsere sogenannten Zivilisationskrankheiten sind durch Zivilisation entstanden. Durch unseren Hang, alles so einfach und angenehm wie möglich zu machen.

Das Gefühl des Unwohlsein ist lernfähig und kann lebensvereinfachend sein, wenn man begriffen hat, worum es geht.

Vielleicht sollten wir uns überlegen, daß wir nicht dazu gemacht sind bequem zu sein, sondern unbequem.

Unsere Umgebung formt uns. Die Frage ist nur wohin das führt.

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