Der Tunnelblick – wie Stress unsere Wahrnehmung verengt

„Je höher der Druck, desto enger wird die Welt.“

Tunnelblick ist kein Sinnbild, sondern ein messbares Phänomen. Wenn der Körper in Stress gerät, verändert sich nicht nur das Denken, sondern auch das Sehen. Der Blick verengt sich, das Umfeld verliert an Bedeutung, Details verschwinden. Was bleibt, ist ein schmaler visueller Korridor – fokussiert, aber blind für das, was am Rand geschieht.

In Gefahrensituationen kann das über Leben und Verletzung entscheiden. Wer nur noch den Auslöser einer Bedrohung fixiert, übersieht Auswege, Verbündete oder Alternativen. Um zu verstehen, wie dieser Zustand entsteht, lohnt sich ein Blick in die Biologie und in die Psychologie der Wahrnehmung.

Der Körper schaltet um

Sobald unser Gehirn eine Bedrohung wahrnimmt, reagiert das autonome Nervensystem. Adrenalin und Noradrenalin werden ausgeschüttet, das Herz schlägt schneller, die Atmung wird flacher, Muskeln spannen sich an. Der Körper bereitet sich auf Aktion vor – auf Kampf oder Flucht.

Dieser Zustand wird begleitet von einer Neuverteilung der Energie. Prozesse, die kurzfristig nicht überlebenswichtig sind – Verdauung, feine Motorik, abstraktes Denken – werden heruntergefahren. Das Gehirn priorisiert Reaktionsfähigkeit.

Auch die Sinnesverarbeitung verändert sich. Der visuelle Kortex fokussiert stark auf das Zentrum des Blickfeldes. Bewegungen, Kontraste und Bedrohungen werden bevorzugt verarbeitet, während periphere Informationen unterdrückt werden. So entsteht das, was wir als Tunnelblick bezeichnen: ein eng begrenzter Wahrnehmungskanal, optimiert auf eine unmittelbare Handlung.

Wahrnehmung im Ausnahmezustand

In diesem Zustand reduziert sich die Welt auf das Nötigste. Menschen berichten, dass Geräusche dumpfer werden, Zeit sich verlangsamt oder beschleunigt, Farben verblassen.

Das Gehirn ist nicht mehr Beobachter, sondern Operator – es sucht nur noch nach Handlungsoptionen.

Diese Fokussierung hat evolutiv Sinn. In einer akuten Bedrohungslage war es überlebenswichtig, sich auf den Angreifer oder das Fluchtziel zu konzentrieren. Alles andere war Ablenkung.

Doch in der modernen Welt, in der Bedrohungen komplexer, sozialer und mehrdeutig sind, wird dieser Mechanismus zum Problem. Er verschließt Optionen, statt sie zu eröffnen.

Tunnelblick kann in jeder Form von Stress auftreten – nicht nur in Gewaltkonfrontationen.

Auch in sportlichen Wettkämpfen, bei Prüfungen, bei Überforderung im Straßenverkehr oder in Konflikten im Beruf. Immer dann, wenn das System „Überleben“ aktiviert wird, wird Wahrnehmung verengt.

Die Illusion der Kontrolle

Ein paradoxer Aspekt des Tunnelblicks ist, dass er sich subjektiv oft wie gesteigerte Kontrolle anfühlt. Man glaubt, „ganz bei der Sache“ zu sein. In Wahrheit ist man nur noch auf einen Aspekt fixiert – meist den, der am bedrohlichsten wirkt.

Dieser enge Fokus verhindert das Erkennen von Alternativen. Im Selbstschutz bedeutet das: wer nur noch auf die Hand des Angreifers starrt, verliert den Überblick über seine Umgebung. Wer im Streit nur noch die eigene Angst spürt, erkennt nicht mehr, was der andere wirklich tut.

Die Illusion besteht darin, dass das Gehirn Klarheit vorgaukelt, während es Informationen ausblendet. Der Preis ist ein Verlust an Handlungsspielraum.

Training gegen den Tunnel

Der Tunnelblick lässt sich nicht vollständig verhindern – er ist eine automatische Reaktion. Aber man kann lernen, ihn zu erkennen und abzumildern.

Ein erster Schritt ist, Stress bewusst wahrzunehmen. Wenn der Puls steigt, die Atmung flach wird und die Schultern sich verspannen, ist das der Beginn der Reaktionskette. Wer in diesem Moment bewusst atmet, den Blick weitet und die Umgebung scannt, signalisiert dem Nervensystem: die Situation ist kontrollierbar.

Ein weiterer Ansatz besteht darin, Wahrnehmung unter Belastung zu trainieren. Im Selbstschutztraining oder im Sport kann man Übungen einbauen, die Konzentration und Übersicht gleichzeitig fordern – etwa Aufgaben, bei denen man unter Bewegung Reize aus dem Umfeld erkennen muss.

Auch die mentale Vorbereitung spielt eine Rolle. Menschen, die sich mit möglichen Szenarien auseinandergesetzt haben, reagieren ruhiger, wenn sie eintreten. Sie erleben zwar Stress, geraten aber seltener in totale Fixierung.

Langfristig hilft Achtsamkeit. Nicht als Entspannungsübung, sondern als Praxis der Präsenz. Wer gelernt hat, die Aufmerksamkeit zu lenken und zu erweitern, kann sie auch in Drucksituationen besser steuern.

Bedeutung für Selbstschutz und Training

In der Praxis des Selbstschutzes ist das Verständnis des Tunnelblicks zentral.

Progressive Combatives zielt darauf, Verhalten unter Stress realistisch zu schulen. Es geht nicht darum, den Tunnelblick zu „besiegen“, sondern darum, ihn zu kennen.

Wenn man weiß, dass Wahrnehmung sich verengt, kann man sein Training danach ausrichten: klare, einfache Handlungen, wenig kognitive Last, bewusste Atemführung. So bleibt Handlungsfähigkeit erhalten, auch wenn das System auf Alarm steht.

Wahrnehmung, Atmung und Bewegung bilden eine Einheit. Wer sie integriert trainiert, verschiebt die Schwelle, an der der Tunnel entsteht. Das Ziel ist nicht, cool zu bleiben – sondern klar zu bleiben.

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