Warum Betroffene häuslicher Gewalt so selten Hilfe suchen

Psychologische Mechanismen, strukturelle Hürden und gesellschaftliche Missverständnisse

Häusliche Gewalt wird oft als privates Problem fehlinterpretiert – dabei ist sie ein gesamtgesellschaftliches Phänomen mit hohen Dunkelziffern. Ein zentraler Grund dafür ist, dass Betroffene selten frühzeitig Hilfe suchen. Die Gründe sind komplex, vielschichtig und reichen von psychologischen Faktoren bis hin zu strukturellen Barrieren. Der Blick auf diese Hintergründe zeigt, warum Prävention und Intervention auf mehreren Ebenen gleichzeitig ansetzen müssen.

Die Erwartungshaltung der Außenwelt

Viele Menschen reagieren mit Unverständnis, wenn Betroffene trotz Gewalt in einer Beziehung bleiben. Diese Haltung entspringt einem verbreiteten, aber falschen Bild: der Annahme, Entscheidungen würden in Gewaltbeziehungen rational, stabil und unabhängig getroffen. In Wirklichkeit stehen Betroffene unter anhaltender emotionaler, sozialer und wirtschaftlicher Belastung. Das verzerrt Wahrnehmung, Handlungsspielraum und Risikoeinschätzung.

Der psychologische „Gewaltzyklus“

In vielen Fällen verläuft häusliche Gewalt zyklisch:

  1. Aufbau von Spannungen
  2. Eskalation
  3. Entschuldigung oder beschwichtigendes Verhalten
  4. Phase scheinbarer Harmonie

Diese Zyklen erzeugen Bindungen, Hoffnung auf Veränderung und Loyalitätskonflikte. Besonders in der „Honeymoon-Phase“ fühlen Betroffene sich bestätigt, dass der Partner sich bessern könne. Das erschwert klare Entscheidungen und führt zu wiederholtem Verbleiben in der Beziehung.

Scham, Schuld und die Angst vor Bewertungen

Scham ist einer der stärksten Gründe, warum Betroffene schweigen. Viele glauben, sie hätten versagt, seien selbst schuld oder würden nicht ernst genommen. Gesellschaftliche Narrative verstärken dies: Über Jahrzehnte wurde Gewalt im häuslichen Umfeld als Privatangelegenheit verharmlost. Diese kulturelle Prägung wirkt bis heute.

Schuldgefühle entstehen oft durch die Manipulation des Täters: Gaslighting, Beschuldigungen oder Umkehr der Verantwortung gehören zu den häufigsten psychischen Gewaltformen.

Betroffene entwickeln dadurch Zweifel an ihrer eigenen Wahrnehmung.

Ökonomische Abhängigkeiten – ein unterschätzter Faktor

Finanzielle Unsicherheit betrifft besonders Frauen, Alleinerziehende oder Menschen ohne eigenen Zugang zu Geld. Wer keine Kontrolle über Einkommen oder Konten hat, kann kaum eine Wohnung finden, einen Anwalt bezahlen oder Kinder allein versorgen.

Viele Betroffene bleiben deshalb nicht, weil sie wollen, sondern weil sie keine sichere Alternative sehen.

Die Trennungsphase als Hochrisikosituation

Ein besonders kritischer Punkt: Der gefährlichste Moment für Betroffene ist häufig der Versuch, die Beziehung zu verlassen. Gewalt kann in dieser Phase eskalieren. Diese Erkenntnis erklärt, warum Betroffene einen Ausstieg verschieben oder vermeiden – nicht aus Unentschlossenheit, sondern aus Angst um ihr Leben.

Fehlende Zugänge zu Hilfsstrukturen

Obwohl das Hilfesystem in Deutschland vergleichsweise gut ausgebaut ist, gibt es strukturelle Engpässe:

  • zu wenige Plätze in Frauenhäusern
  • mangelnde Angebote im ländlichen Raum
  • Sprachbarrieren bei Migrantinnen
  • fehlende Informationen über Rechte und Anlaufstellen
  • Angst vor Behörden, insbesondere bei unsicherem Aufenthaltsstatus

Digitale Unterstützung kann helfen, ersetzt aber nicht den realen Schutz in akuten Gefahrensituationen.

Kinder als zusätzlicher Belastungsfaktor

Viele Betroffene bleiben aus Sorge, die Kinder könnten leiden, den Kontakt zu einem Elternteil verlieren oder in instabile Verhältnisse geraten. Täter nutzen dies häufig gezielt aus und drohen mit Sorgerechtskonflikten oder Entzug finanzieller Unterstützung.

Gleichzeitig belastet die Verantwortung für Kinder die Kapazität, sich um den eigenen Schutz zu kümmern.

Gesellschaftliche Stereotype über „starke“ und „schwache“ Opfer

Ein weiteres Problem ist der Mythos, Gewalt könne nur bestimmten „verletzlichen“ Frauen passieren. Tatsächlich betrifft häusliche Gewalt alle sozialen Schichten. Diese Stereotype erzeugen zusätzliche Hemmschwellen, weil Betroffene nicht in das Klischee des „typischen Opfers“ passen und daher nicht glauben, Anspruch auf Hilfe zu haben.

Quellen

WHO – Weltgesundheitsorganisation

– Violence Against Women: Prevalence Estimates (2021)

– Understanding and Addressing Violence Against Women (2012)

– RESPECT Women Framework (2019)

– Health consequences of intimate partner violence (Fact Sheets)

EIGE – European Institute for Gender Equality

– Gender-based Violence Reports (2021–2023)

– Risk Factors and Social Norms Studies

– Cyber Violence Studies (2022)

FRA – European Union Agency for Fundamental Rights

– EU-Wide Survey on Violence Against Women (2014)

– Reports zu Intimate Partner Violence (IPV)

Bundeskriminalamt (BKA)

– Partnerschaftsgewalt. Kriminalstatistische Auswertung (jährlich, zuletzt 2023/2024)

– Polizeiliche Kriminalstatistik: Häusliche Gewalt

BMFSFJ

– Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ – Jahresberichte

– Bericht zur Umsetzung der Istanbul-Konvention

– Berichte zu Frauenhäusern, Beratung, Prävention

Europarat

– Istanbul-Konvention (2011)

– GREVIO-Evaluationsberichte zur Umsetzung in Deutschland

Forschungsliteratur (repräsentativ)

– Walker, L. (1979): The Battered Woman – Gewaltzyklus

– Heise, L. (1998/2011): Ecological Framework for Violence Against Women

– Campbell, J. (2003): Lethality Assessment & Hochrisikophasen

– Felitti et al. (1998): ACE-Study – Gewaltfolgen und Entwicklungsrisiken

– UNICEF & WHO: Studien zu Folgen von miterlebter Gewalt bei Kindern

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